Westliche Mediziner und die Öffentlichkeit haben ein falsches Bild vom Krieg und seinen Folgen, das oft weit von den tatsächlichen Erfahrungen nicht-westlicher Gesellschaften entfernt ist. Ein britischer Psychiater befasst sich mit den Auswirkungen des Krieges und dem Glauben, dass die emotionalen Reaktionen der Kriegsopfer verändert werden sollten
Im Jahr 1999 ergab eine Umfrage der Centers for Disease Control and Prevention unter 600 Haushalten von Kosovo-Albanern, dass 86 % der Männer und 89 % der Frauen starke Hassgefühle gegenüber den Serben hegten. Insgesamt hatten 51 % der Männer und 43 % der Frauen den Wunsch, sich meistens oder immer zu rächen.1 Ähnliche Ergebnisse wurden beispielsweise bei Menschen auf beiden Seiten des israelisch-palästinensischen Konflikts festgestellt.2
Die Vorstellung, dass Rachegefühle schlecht für einen sind, stammt aus den quietistischen jüdisch-christlichen Traditionen des Bekennens, Vergebens und des Hinhaltens der anderen Wange. Im Bericht der kosovarischen Studie wurden Rachegefühle als Indikator für eine schlechte psychische Gesundheit genannt, und der Bericht schloss mit Empfehlungen für Programme zur psychischen Gesundheit. In Kroatien – einem Teil des ehemaligen Jugoslawiens – wurde kroatischen Kindern, die vom Krieg betroffen waren, in einem von Ausländern geleiteten Projekt erklärt, dass es ihnen helfen würde, sich von dem Trauma zu erholen, wenn sie die Serben nicht hassen und ihnen nicht misstrauen würden.3
In einer kürzlich durchgeführten Studie über Opfer der Apartheid in Südafrika – von denen einige vor der Wahrheits- und Versöhnungskommission ausgesagt haben – traten posttraumatische Belastungsstörungen und Depressionen deutlich häufiger bei denjenigen auf, die den Tätern gegenüber nicht nachsichtig waren, als bei denjenigen, die einen hohen „Vergebungs“-Wert aufwiesen.4 Mit solchen Studien soll die Vorstellung wissenschaftlich untermauert werden, dass die psychische Gesundheit der Opfer gefährdet ist, wenn sie denjenigen, die sie verletzt haben, nicht vergeben. Die moralische Ökonomie, die während der Anhörungen herrschte, zeigt sich darin, dass es den Kommissaren nicht unangenehm war, wenn Zeugen während ihrer Aussage weinten, sondern dass sie nicht wollten, dass sie wütend wurden.
Von Kriegsopfern wird oft erwartet, dass sie aufgrund ihrer „Traumatisierung“ oder „Brutalisierung“ rachsüchtig sind und neue „Gewaltkreisläufe“ fördern. Die emotionalen Reaktionen von Menschen, die vom Krieg betroffen sind, werden als schädlich für sie selbst und gefährlich für andere wahrgenommen; dies führt zu der Überzeugung, dass die Reaktionen der Opfer geändert werden sollten. Insbesondere in Ruanda und im ehemaligen Jugoslawien bildete eine solche Überzeugung die Grundlage für Beratungsmaßnahmen, die – oft in großem Umfang – von humanitären Organisationen eingesetzt wurden.5
Zusammenfassende Punkte
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Begriffe wie „Traumatisierung“ oder „Brutalisierung“ können vereinfachend und stigmatisierend sein
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Es besteht eine Spannung zwischen medizinisch-therapeutischen Gesichtspunkten und soziomoralischen Gesichtspunkten
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„Genesung“ vom Krieg ist kein diskreter psychologischer Prozess oder ein Ereignis
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Genesung dreht sich darum, dass die Person praktisch wieder amWiedereingliederung in das alltägliche Leben
Aber was für den einen Rache ist, ist für den anderen soziale Gerechtigkeit. Es stellt sich die Frage, ob Wut, Hass und ein gefühltes Bedürfnis nach Rache bei Menschen, denen schweres Unrecht widerfahren ist, notwendigerweise etwas Schlechtes sind. In solchen Gefühlen steckt eine moralische Frage, die auf soziale und individuelle Wunden und auf gemeinsame Vorstellungen von Gerechtigkeit, Verantwortlichkeit und Bestrafung verweist, die ein soziales Gefüge zusammenhalten. Sie verlangen nach Antworten. Hätte man den jüdischen Überlebenden des Nazi-Völkermordes 1945 raten sollen, die Deutschen nicht zu hassen? Waren die Nürnberger Prozesse gegen die Nazi-Kriegsführer, in denen nach dem Zweiten Weltkrieg die Todesstrafe verhängt wurde, das Ergebnis der Verrohung der Opfer des Nationalsozialismus und ihrer ungesunden Gefühle von Hass und Rache? Oder waren die Prozesse ein Beispiel für gelebte Gerechtigkeit und halfen den Opfern, einer von Menschen verursachten Katastrophe einen Sinn zu geben?
Kinder, die vom Krieg betroffen sind, werden oft als „brutalisiert“ bezeichnet: Dies impliziert, dass die Psychologie und die moralischen Normen beschädigt und die Menschlichkeit gemindert wurden. Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen hat erklärt, dass „die Zeit das Trauma nicht heilt“ und Millionen solcher Kinder oft als „verlorene Generation“ bezeichnet werden.6 Trifft dies auch auf die Kinder zu, die im Zweiten Weltkrieg in Europa gefangen waren? Die medizinische Literatur ist voll von ähnlich pauschalen Aussagen, die keine Gültigkeit haben und pathologisierend und stigmatisierend sind. Außerdem haben die untersuchten Personen nicht zugestimmt, dass ihre psychische Gesundheit objektiviert und als ungesund charakterisiert wird (in der Regel durch einen weit entfernten Beobachter), was ethische Fragen aufwirft.