Das Editorial zum Forschungsthema
What Determines Social Behavior? Investigating the Role of Emotions, Self-Centered Motives, and Social Norms
In den letzten zehn Jahren wurden in den Verhaltenswissenschaften, insbesondere in der Psychologie und den Neurowissenschaften, immer mehr Forschungsanstrengungen in die Untersuchung der kognitiven, biologischen und evolutionären Grundlagen des sozialen Verhaltens investiert. Anders als die Soziologie, die soziales Verhalten auch auf der Gruppenebene in Form von Organisationen und Strukturen untersucht, definieren Psychologie und Neurowissenschaften „sozial“ häufig als eine Eigenschaft des individuellen Gehirns, die eine effiziente Interaktion mit Artgenossen ermöglicht und somit einen möglichen evolutionären Vorteil darstellt (Matusall). Nach dieser Auffassung kann ein äußerst breites Spektrum mentaler und neuronaler Prozesse als „sozial“ eingestuft werden, von der Kodierung relevanter sensorischer Reize über Artgenossen (Mimik, Gestik, Lautäußerungen usw.) bis hin zur Auswahl und Planung von Verhaltensreaktionen in komplexen zwischenmenschlichen Situationen (wirtschaftliche Transaktionen, Verhandlungen usw.). Trotz dieser Heterogenität besteht in der wissenschaftlichen Gemeinschaft ein konvergierendes Interesse an der Identifizierung neuronaler und psychologischer Mechanismen, die all den vielen Facetten des Sozialverhaltens zugrunde liegen, sowie an deren Vergleich über Arten und Kulturen hinweg.
Dieses Forschungsthema wurde von Forschern des Nationalen Forschungsschwerpunkts „Affektive Wissenschaften – Emotionen im individuellen Verhalten und in sozialen Prozessen“ initiiert, einer multidisziplinären Einrichtung, die sich der Untersuchung affektbezogener Prozesse in verschiedenen Disziplinen (von der Psychologie und den Neurowissenschaften bis hin zu Geschichte, Philosophie, Kunst und Wirtschaft) widmet. In diesem Sinne umfasst dieses Forschungsthema 38 Beiträge aus einer interdisziplinären Gemeinschaft, die sich mit spezifischen psychologischen und neuronalen Phänomenen befassen, die als „sozial“ definiert werden können. Wir haben sowohl theoretische als auch empirische Beiträge gesammelt, die Tiere, menschliche Individuen (neurotypische Erwachsene und Kinder, aber auch Personen mit neurologischen, psychiatrischen und entwicklungsbedingten Störungen) sowie menschliche Gruppen betreffen, die entweder unter Laborbedingungen oder in realen Situationen arbeiten. Obwohl die theoretischen Modelle und die angewandten Forschungstechniken (psychophysikalisch, physiologisch, Neuroimaging, genetisch) sehr unterschiedlich sind, konvergieren sie in einem globalen Rahmen, der nahelegt, dass die Determinanten des Sozialverhaltens über zwei unabhängige Dimensionen beschrieben werden können: (1) eine Dimension zwischen Person und Umwelt und (2) eine Dimension zwischen Vergänglichkeit und Stabilität. Diese Beiträge stellen somit einen wichtigen Eckpfeiler für den Aufbau eines interdisziplinären und umfassenden Modells darüber dar, wie Individuen mit der Komplexität ihres sozialen Umfelds umgehen.
Personal-to-Environmental Dimension
Für die Zwecke dieses Leitartikels können wir soziale Interaktionen schematisch als Fälle beschreiben, in denen ein Individuum in einem bestimmten sozialen Umfeld engagiert ist. Wichtig ist, dass das Individuum und die Umwelt sich gegenseitig beeinflussen, da individuelle Veränderungen Veränderungen in der Außenwelt hervorrufen und durch sie verursacht werden können. In diesem Zusammenhang können wir ein Verhalten von Interesse als jede Veränderung des Zustands des Individuums im Laufe der Zeit definieren (offene Reaktion, Gehirnmodulation usw.), die wiederum mit zwei Hauptvariablen in Verbindung gebracht werden kann: einer Darstellung des aktuellen Zustands des Individuums (um zu wissen, wie sich eine Person verändern wird, muss man wissen, wie diese Person ist) und einer Darstellung des aktuellen Zustands der Umwelt (um zu wissen, wie sich eine Person verändern wird, muss man wissen, was sie umgibt). Die Dimension „Person-Umwelt“ unterscheidet also zwischen den Determinanten des Sozialverhaltens, die auf idiosynkratische Merkmale der Person zurückzuführen sind, und denjenigen, die mit den Besonderheiten der Umwelt zusammenhängen, mit der die Person interagiert. Ein solches vereinfachtes Modell passt gut zu unserem Forschungsthema, da in den verschiedenen Beiträgen die Rolle vieler Faktoren hervorgehoben wird, die trotz ihrer Vielfalt ohne weiteres als persönliche oder umweltbedingte Faktoren eingestuft werden können.
Unter den persönlichen Faktoren wird die Rolle genetischer Polymorphismen im vorliegenden Forschungsthema durch die Verwendung von Knock-out-Mäusen und Endophänotyp-Ansätzen beim Menschen gut beschrieben. In all diesen Fällen ist bekannt, dass die betroffenen Gene wichtige Funktionen von Hormon- und Neurotransmittersystemen innerhalb der für die soziale Kognition wichtigen Gehirnnetzwerke beeinflussen. So zeigen beispielsweise Mäuse, denen die β2-Untereinheit der neuronalen nikotinischen Acetylcholinrezeptoren fehlt, im Vergleich zu Wildtyp-Mäusen ein beeinträchtigtes Verhalten, wenn sie mit Artgenossen um Belohnungen konkurrieren (Chabout et al.Nach einer umfangreichen Literatur, die dokumentiert, wie sich die intranasale Verabreichung von Oxytocin auf das menschliche Sozialverhalten auswirkt (siehe Ebner et al.; Haas et al.; Järvinen und Bellugi), befassen sich mehrere Beiträge mit der Rolle, die der Oxytocin-Genrezeptor (OXTR) spielt.) Ebner et al. zeigen aus einer Entwicklungsperspektive, wie OXTR-Polymorphismen die Reaktionen junger und älterer Erwachsener im medialen präfrontalen Cortex (MPFC) auf emotionale Gesichtsausdrücke unterschiedlich beeinflussen. Haas et al. schlagen vor, wie OXTR-Polymorphismen Variationen im individuellen kooperativen Verhalten erklären könnten, indem sie die Struktur und Funktion von Schlüsselbereichen des Gehirns für soziales Verhalten wie die Amygdala, den superioren temporalen Sulcus und den anterioren cingulären Kortex beeinflussen. Es ist möglich, dass Hirnregionen mit einer hohen Dichte an Oxytocin-Rezeptoren (wie die Amygdala) das Sozialverhalten durch ihre regulierende Rolle für das autonome Nervensystem beeinflussen, eine Hypothese, die von Järvinen und Bellugi aufgestellt wurde, um soziales Fehlverhalten beim Williams-Syndrom zu erklären, zusätzlich zu den klassischen Auswirkungen auf Kognition oder Lernen. Schließlich weisen Hruschka und Henrich darauf hin, dass genetischer Polymorphismus sogar einige kulturelle Unterschiede erklären könnte, wie die kontroversen Hinweise darauf nahelegen, dass kollektivistische (im Gegensatz zu individualistischen) Gesellschaften am häufigsten allelische Variationen der Serotonin-Transporter-verknüpften polymorphen Region aufweisen könnten (Chiao und Blizinsky, 2010; Eisenberg und Hayes, 2011).
In einigen Studien wurde auch die Rolle individueller Merkmale für das Sozialverhalten hervorgehoben: Dabei handelt es sich um gewohnheitsmäßige Verhaltensmuster, Gedanken und Emotionen, die im Laufe der Zeit relativ stabil sind. Obwohl die Ätiologie unklar ist, wurde die interindividuelle Variabilität von Merkmalen in der Literatur häufig als ein wichtiger Faktor zur Erklärung von Verhaltensunterschieden in der neurotypischen Bevölkerung herangezogen. Dies ist der Fall bei mehreren Studien aus dem vorliegenden Forschungsthema, die beispielsweise berichten, dass individuelle empathische Eigenschaften die Dekodierung emotionaler Gesichtsausdrücke (Huelle et al.) oder monetäre Entscheidungen für unbekannte Personen (O’Connell et al.) beeinflussen können. Darüber hinaus stellen (Maresh et al.) fest, dass die neuronale Reaktion auf Elektroschocks (und das Ausmaß, in dem diese durch soziale Nähe beeinflusst wird) durch individuelle Angstmerkmale moduliert wird, ein Maß für die idiosynkratische Empfindlichkeit gegenüber Stressoren. Schließlich umfasst dieses Forschungsthema mehrere Studien zu Personen, die Merkmale der Psychopathie aufweisen, einem Entwicklungssyndrom, das durch ein geringes Maß an Empathie, Schuldgefühlen und Reue, aber ein erhöhtes aggressives und antisoziales Verhalten gekennzeichnet ist (Marsh). Insbesondere Personen mit hohen Psychopathiewerten zeigen bei vielen experimentellen Manipulationen im Zusammenhang mit Angstkonditionierung (Veit et al.), Angstempathie (Marsh) oder moralischer Kognition (Tassy et al.) veränderte neuronale und verhaltensbezogene Reaktionen. Der Fall der Psychopathie verdeutlicht die enge Verbindung zwischen individuellen Merkmalen und dem Vorhandensein von Störungen, die in einigen Fällen als extreme Varianten normativer Verhaltensmuster angesehen werden können (Hare und Neumann, 2005; Walton et al., 2008). Mehrere Studien berichten übereinstimmend von atypischem Sozialverhalten bei Personen mit psychiatrischen Diagnosen oder neurologischen Entwicklungssyndromen. So zeigen beispielsweise Personen mit Schizophrenie und bipolaren Störungen Beeinträchtigungen bei Aufgaben, die Rückschlüsse auf die Gedanken und Gefühle anderer Menschen zulassen (Caletti et al.). In ähnlicher Weise zeigen Personen mit Autismus-Spektrum-Störung oder Asperger-Syndrom atypisches Verhalten bei verschiedenen Aufgaben (siehe Zalla und Sperduti, für einen Überblick), die von der visuellen Verarbeitung emotionaler Gesichtsausdrücke (Corradi-Dell’Acqua et al.) bis hin zu Rückschlüssen auf den Zustand anderer, Empathie und moralische Kognition (Baez et al.) reichen.
Unter den Umweltfaktoren betonen mehrere Studien in diesem Forschungsthema die Rolle, die soziale Normen spielen. Diese können als Repräsentationen der Wünsche und Erwartungen der Gemeinschaft in Bezug auf Endzustände verstanden werden, die unsere Bewertung von Ereignissen und die Auswahl von Verhaltensreaktionen leiten (siehe Brosch und Sander, für weitere Einzelheiten zu Normen und Werten). Hruschka und Henrich weisen insbesondere darauf hin, dass sozioökonomische Regeln (im Zusammenhang mit Religion oder Markt) das Ausmaß erklären können, in dem Bevölkerungen geneigt sind, gruppeninterne Vorurteile zu zeigen. Darüber hinaus erörtern Clément und Dukes, wie das Interesse an Ereignissen in der Umwelt durch deren normative Bedeutung beeinflusst werden kann, d. h. durch das Ausmaß, in dem diese für soziale Normen und das Selbstkonzept in der Gemeinschaft relevant sind. Weitere Beiträge legen nahe, dass das Verhalten von Menschen in Situationen, in denen es um die Aufteilung von Gütern geht, überwiegend im Sinne von Fairnessnormen oder Gleichheitsheuristiken verstanden werden kann, denen zufolge Menschen bereit sind, ungleiche Aufteilungen auch auf ihre eigenen Kosten zu sanktionieren (Civai). Shaw und Olson zeigen zum Beispiel, dass Kinder im Alter von 6 bis 8 Jahren ungleiche Verteilungen von Spielmarken zwischen zwei unbekannten Kindern korrigieren (oder zumindest versuchen, sie zu minimieren). Bei Erwachsenen deuten zwei Artikel auf eine wichtige Rolle von Fairness-Heuristiken in der bekannten Ultimatum-Spiel-Aufgabe hin (Civai; Guney und Newell): In beiden Fällen argumentieren die Autoren, dass Individuen (Responder) Geld ablehnen, das ihnen frei angeboten wird, wenn es Teil einer ungleichen Aufteilung ist, unabhängig von ihrer aktuellen emotionalen Reaktion (Civai) oder von den vermeintlichen Absichten der Person (des Vorschlagenden), die das Angebot macht (Guney und Newell).
Stabile bis flüchtige Dimension
Die meisten der im vorigen Abschnitt besprochenen Studien beschreiben Faktoren, die trotz ihrer Unterschiedlichkeit als stabil eingestuft werden können, d.h., dass sie eine dauerhafte Wirkung auf das individuelle Sozialverhalten ausüben. Diese können als allgemeine Verhaltensdeterminanten verstanden werden, die über spezifische Situationen hinausgehen. Obwohl sie wichtig sind, haben stabile Determinanten nur eine ungefähre Vorhersagekraft, da eine große Variabilität des individuellen Sozialverhaltens durch vorübergehende Faktoren erklärt werden kann, die mit den Besonderheiten der zwischenmenschlichen Situation zusammenhängen. So kann individuelles Sozialverhalten zum Teil durch idiosynkratische Merkmale des Individuums erklärt werden, aber auch durch Faktoren, die den Zustand des Individuums und seine Interaktion mit der sozialen Umgebung zeitlich verändern.
Mehrere Studien belegen, dass das Sozialverhalten von Menschen durch Manipulation ihres bereits vorhandenen emotionalen Zustands beeinflusst werden kann, indem man ihnen beispielsweise erregende Stimuli zeigt, sie stressigen bzw. belohnenden Bedingungen aussetzt oder sie zu Strategien der Emotionsregulation anhält. Wie im Fall von genetischen Polymorphismen können diese vorbestehenden emotionalen Zustände die mentalen und Gehirnprozesse verändern, die für das individuelle Sozialverhalten entscheidend sind, was zeigt, wie affektive und soziale Funktionen auf teilweise überlappenden Systemen beruhen können. Eskine legt zum Beispiel überzeugende Beweise dafür vor, dass die moralische Kodierung von Menschen auf denselben Prozessen beruhen könnte, die auch dem Ekelgefühl zugrunde liegen (siehe auch Eskine et al., 2011, 2012). Im Einklang mit der umfangreichen Literatur, die zeigt, dass empathische Reaktionen auf den Schmerz und den Ekel anderer ähnliche neuronale Strukturen rekrutieren wie diejenigen, die an Schmerz- und Ekelerfahrungen aus erster Hand beteiligt sind (Corradi-Dell’Acqua et al., 2011, 2016; Bernhardt und Singer, 2012, aber siehe Krishnan et al, 2016), argumentiert Marsh, dass Störungen im Furchterleben zu einer verminderten Fähigkeit führen könnten, Furcht bei anderen zu erkennen (siehe auch Adolphs et al., 1994).
In mehreren Beiträgen wird die Rolle bereits vorhandener emotionaler Zustände bei der Entscheidungsfindung mit Hilfe verhaltensökonomischer Paradigmen untersucht. Der theoretische Rahmen, der den meisten dieser Studien zugrunde liegt, geht davon aus, dass individuelle Entscheidungen aus der Interaktion von mindestens zwei verschiedenen Gehirnsystemen resultieren (Dual-System-Modell – siehe Halali et al.): dem kognitiven/überlegten System (langsam, kontrolliert, kognitiv anspruchsvoll und hauptsächlich im präfrontalen Kortex angesiedelt) und dem affektiven System (schnell, automatisch, kognitiv nicht anspruchsvoll und vorwiegend in limbischen Regionen angesiedelt). Da diese beiden Systeme möglicherweise widersprüchliche Handlungsweisen fördern, kann eine vorübergehende emotionale Induktion als Mittel zur Verstärkung des affektiven Beitrags zu einer Entscheidung eingesetzt werden, wie Eimontaite et al. zeigen, die herausgefunden haben, dass die Induktion von Ärger bei Menschen dazu führt, dass sie bei sozialen Entscheidungsaufgaben wie dem Vertrauensspiel und dem Gefangenendilemma weniger kooperativ sind. In einem ergänzenden Ansatz haben einige Studien die Teilnehmer mit Strategien zur Emotionsregulierung konfrontiert, indem sie sie aufforderten, ihre emotionalen Reaktionen hoch- oder herunterzuregulieren. Es wurde festgestellt, dass eine solche Regulierung einen signifikanten Einfluss auf das nachfolgende Verhalten (Grecucci et al.; van’t Wout et al.) und die Gehirnreaktionen (Grecucci et al.) bei Aufgaben wie dem Ultimatum- und dem Diktatorspiel hat.
Kontextuelle und soziale Bewertung
Ansätze wie das Duale-System-Modell wurden für ihre dichotome Trennung zwischen Kognition und Emotion kritisiert, die zu vereinfachend und nicht durch empirische Belege gestützt erscheint (z. B., Moll et al., 2008; Shackman et al., 2011; Koban und Pourtois, 2014; Phelps et al., 2014). Alternative theoretische Konzepte legen stattdessen nahe, dass Emotionen kein einheitliches Konstrukt im Gegensatz zur Kognition sind und dass verschiedene affektive/motivationale Komponenten das Verhalten auf unterschiedliche (und in manchen Fällen entgegengesetzte) Weise beeinflussen können (Moll et al., 2008; Phelps et al., 2014). Insbesondere Bewertungstheorien von Emotionen (z. B. das Component Process Model von Scherer, 1984, 2009) gehen davon aus, dass das affektive Erleben entscheidend durch eine Reihe von kognitiven Bewertungen (Bewertungsprüfungen) der Umwelt in Bezug auf die Neuartigkeit von Ereignissen, die Valenz, die Auswirkungen auf die eigenen Ziele und die Art und Weise, wie man mit ihnen umgehen kann, bestimmt wird. So beruht beispielsweise Traurigkeit auf dem Bewusstsein des Vorhandenseins eines auffälligen negativen Ereignisses (z. B. das Auftreten einer unheilbaren Krankheit), das persönliche Ziele untergräbt (es wird das eigene Leben beenden) und gegen das es keine wirksamen Maßnahmen zu geben scheint. Dasselbe Ereignis kann stattdessen eine emotionale Reaktion mit höherer Erregung (wie Ärger oder Wut) hervorrufen, wenn es mit der Überzeugung verbunden ist, dass eine Lösung (eine Behandlung) verfügbar ist. Aus dieser Perspektive ist das Komponenten-Prozess-Modell nicht nur eine Theorie der Emotionen, sondern kann als ein umfassender Rahmen gesehen werden, in dem die kognitive Bewertung der Umwelt, die affektiven Reaktionen und die Vorbereitung einer Verhaltensreaktion in ein einzigartiges System integriert sind.
Für die Zwecke dieses Leitartikels sind die vom Component Process Model (Scherer, 1984, 2009) vorgeschlagenen Beurteilungskontrollen gute Kandidaten, um zu erklären, wie das soziale Umfeld nicht als stabiles Konstrukt betrachtet werden sollte, das dauerhafte Auswirkungen auf das individuelle Verhalten hat, sondern auch als das Ergebnis mehrerer kontextueller oder vorübergehender Faktoren, die in ihrer Kombination jede zwischenmenschliche Situation einzigartig machen. In Übereinstimmung mit dieser Sichtweise wird in mehreren Beiträgen zu diesem Forschungsthema vorgeschlagen, dass individuelle affektive und verhaltensbezogene Reaktionen durch Bewertungen des sozialen Kontextes bestimmt werden könnten, von denen einige denselben Beurteilungskontrollen entsprechen, die im Komponenten-Prozess-Modell beschrieben werden. So zeigen Maresh et al., dass bei ängstlichen Personen die neuronalen Reaktionen auf bedrohliche elektrische Reize davon abhängen, ob die Teilnehmer allein oder in der Nähe einer Person sind, die ein Fremder oder ein Freund sein könnte. Darüber hinaus untersuchen Clark-Polner und Clark, wie zwischenmenschliches Verhalten (z. B. Reaktion auf die Emotionen anderer, Bereitstellung und Erhalt sozialer Unterstützung) durch den Kontext der Beziehung beeinflusst wird. In ähnlicher Weise schlagen Baez et al. vor, dass sich die sozialen Fähigkeiten von Personen mit Asperger-Syndrom verbessern könnten, wenn die Kontextinformationen aus dem sozialen Umfeld explizit gemacht werden. Alexopoulos et al. schließlich ließen Teilnehmer in einem modifizierten Ultimatum-Spiel als Responder spielen und fanden heraus, dass die neuronale Aktivität im MPFC bei unfairen Angeboten davon abhängt, ob sie sich am Vorschlagenden rächen könnten (was eine Veränderung des Bewältigungspotenzials widerspiegelt).
Aufgrund der dynamischen Eigenschaften zwischenmenschlicher Beziehungen und Interaktionen reichen einfache Beurteilungskontrollen wie die Bewertung von Neuheit, Valenz, Bewältigungspotenzial usw. oft nicht aus, um die Komplexität sozialer Situationen zu bewältigen. Zu den vielen kontextuellen/veränderlichen Eigenschaften der Umgebung, die bewertet werden müssen, gehört auch die Anwesenheit anderer Menschen mit ihren eigenen mentalen Zuständen und kognitiven Einschätzungen. Stellen wir uns zum Beispiel den Fall vor, dass eine Person einen Freund beobachtet, um auf dessen Gefühlslage zu schließen. Es liegt nahe, dass die Person das Verhalten des beobachteten Freundes in Bezug auf die wahrscheinlichsten Determinanten, einschließlich seiner kontextuellen Bewertung, modellieren könnte. Insbesondere kann die Person einschätzen, ob der Freund traurig ist, indem sie prüft, ob er/sie glaubt, dass er/sie unheilbar krank ist und dass es möglicherweise keine Behandlung gibt (siehe auch Corradi-Dell’Acqua et al., 2014). Dies ist ein Beispiel für eine soziale Bewertung, bei der jedes Individuum kontextuelle Aspekte der sozialen Umgebung auch im Hinblick darauf darstellt, wie andere Umstehende dieselbe Umgebung aus ihrer Sicht bewerten (siehe Manstead und Fischer, 2001; Clément und Dukes). Die soziale Bewertung bezieht sich auf die metakognitiven Fähigkeiten des Einzelnen und steht in engem Zusammenhang mit Konzepten wie Mentalisieren, Theory-of-Mind und Perspektivenübernahme. Die Rolle, die die soziale Bewertung spielt, wurde in diesem Forschungsthema durch Artikel hervorgehoben, die sich auf die Bildung von Eindrücken (Kuzmanovic et al.), zwischenmenschliche Beziehungen (Bombari et al.) und monetäre Transaktionen (Halali et al.; Tomasino et al.) konzentrieren. Insbesondere können die Verhaltens- und neuronalen Reaktionen von Individuen (Respondern) auf Unfairness im Ultimatum-Spiel davon beeinflusst werden, ob die monetäre Transaktion vom Vorschlagenden als Angebot („Ich gebe“) oder als Erwerb („Ich nehme“) formuliert wird; Sarlo et al, 2013; Tomasino et al.) Darüber hinaus weisen Halali et al. darauf hin, dass die meisten automatischen Entscheidungen der Teilnehmer bei Ultimatum- und Diktatorspiel-Aufgaben in der Rolle des Antragstellers von Überlegungen darüber gesteuert werden, ob der Antwortende sich für eine potenziell unfaire Behandlung revanchieren kann.
Soziale Einschätzungen lassen sich auf neuronaler Ebene von anderen Arten kontextueller Bewertungen unterscheiden. Im Einklang mit bestehenden Modellen zur Organisation des MPFC (Lieberman, 2007; Forbes und Grafman, 2010; Corradi-Dell’Acqua et al., 2015) verwenden Bzdok et al. meta-analytische Daten, um eine Trennung zwischen einem dorsalen Teil, der an top-down-gesteuerten, metakognitiven Fähigkeiten beteiligt ist, und einem ventralen Teil, der an bottom-up-automatischen, bewertungsbezogenen Prozessen beteiligt ist, vorzuschlagen. Diese Trennung wird auch von Kang et al. unterstützt, die zeigen, dass der dorsale MPFC an der genauen Einschätzung der Präferenzen anderer Personen beteiligt ist, während der ventrale MPFC rekrutiert wird, wenn das Selbst als Proxy für die Schätzung verwendet wird. Darüber hinaus berichtet Grossmann, dass der dorsale MPFC bereits im Alter von 5 Monaten an triadischen Interaktionen beteiligt sein könnte, bei denen Säuglinge Blickkontakt mit anderen herstellen, um ihre Aufmerksamkeit auf bestimmte Objekte/Ereignisse in der äußeren Umgebung zu richten (siehe auch Grossmann und Johnson, 2010). Es sollte jedoch betont werden, dass diese Trennung zwischen dorsalen und ventralen Regionen im Widerspruch zu anderen Studien unseres Forschungsthemas steht: Einerseits implizieren Farrow et al. den dorsalen (aber nicht ventralen) MPFC in die Verarbeitung und Bewertung von bedrohlichen Wörtern, Bildern und Geräuschen; andererseits wird der ventrale (aber nicht dorsale) MPFC mit Prozessen in Verbindung gebracht, die mit der sozialen Bewertung zusammenhängen, wie z.B. die unterschiedliche Behandlung von menschlichen und Computergegnern bei Geldtransaktionen (Moretto et al.), oder die Konformität mit der Entscheidung von Gleichgesinnten in einer Wahrnehmungsschätzungsaufgabe (Stallen et al.).
Schlussfolgerungen
In den letzten Jahrzehnten haben Psychologen und Neurowissenschaftler eine beträchtliche Menge an Forschungsarbeit investiert, um die Fähigkeit zu untersuchen, „sozial“ zu handeln, was als evolutionärer Vorteil vieler Spezies angesehen wird (Matusall). Das vorliegende Forschungsthema ist eine Sammlung einer großen Anzahl (38) von Originalbeiträgen aus einer interdisziplinären Gemeinschaft, die gemeinsam hervorheben, dass die Determinanten des individuellen Sozialverhaltens am besten entlang mindestens zweier verschiedener Dimensionen verstanden werden sollten. Diese allgemeine Perspektive bildet das Rückgrat für ein umfassendes und artikuliertes Modell der Interaktion zwischen Menschen und ihren Gehirnen in sozialen Kontexten. Trotz seiner Attraktivität bleibt jedoch unklar, wie sich das in diesem Leitartikel vorgestellte Modell zu bestimmten Paradigmen mit hohem ökologischem Wert verhält, bei denen es schwieriger ist, den relativen Beitrag von persönlichen/umweltbedingten oder stabilen/veränderlichen Determinanten sauber zu entflechten. Dies ist zum Beispiel der Fall bei Preston et al., die Krankenhauspatienten im Endstadium untersuchten, indem sie die emotionalen Reaktionen der Beobachter maßen und feststellten, ob diese mit der Häufigkeit der Hilfeleistung zusammenhingen. In dieser Hinsicht wird eine große Herausforderung für die zukünftige Forschung in der Sozialpsychologie und den Neurowissenschaften in der Tat darin bestehen, genauere Vorhersagemodelle für soziales Verhalten zu entwickeln und sie auf ökologisch gültige Umgebungen anwendbar zu machen.
Autorenbeiträge
Alle aufgeführten Autoren haben einen substanziellen, direkten und intellektuellen Beitrag zu dieser Arbeit geleistet und sie zur Veröffentlichung freigegeben.
Erklärung zu Interessenkonflikten
Die Autoren erklären, dass die Forschung in Abwesenheit von kommerziellen oder finanziellen Beziehungen durchgeführt wurde, die als potenzieller Interessenkonflikt ausgelegt werden könnten.
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