Erörterung der Diagnose

Anämie ist definiert als eine Verminderung der Hämoglobinkonzentration im Blut (und damit auch ein verminderter Hämatokrit) auf <135 g/l bei erwachsenen Männern und <115 g/l bei erwachsenen Frauen. Die Hauptursachen für eine erworbene Anämie lassen sich in einen Blutverlust (Hämolyse oder Blutung) oder eine unzureichende Knochenmarkfunktion (z.B. ineffektive Erythropoese, sideroblastische Veränderungen, Hämatinmangel, chronische Entzündung oder Malignität) einteilen. Ein einfacher, pragmatischer Algorithmus, der für die Untersuchung der Anämie bei Alkoholikern verwendet werden kann, ist in Abbildung 4 dargestellt. Es ist zu bedenken, dass Alkohol die Interpretation der Ergebnisse bestimmter gängiger Labortests, die zur Untersuchung der Ursachen einer Anämie eingesetzt werden, erschweren kann. So ist beispielsweise das mittlere korpuskuläre Volumen zwar durch anerkannte Ursachen wie Vitamin-B12-Mangel oder Folsäuremangel erhöht, aber auch durch hohen Alkoholkonsum allein. Außerdem wird der Ferritinspiegel durch eine Leberentzündung (wie sie nach hohem Alkoholkonsum auftritt) erhöht, was die Abnahme des Ferritins, die bei Eisenmangel auftritt, überdecken kann.

Ein Algorithmus, der einen einfachen Ansatz für die Untersuchung von Anämie bei Alkoholikern bietet. Abkürzungen: AST, Aspartat-Transaminase; EGD, Ösophagogastroduodenoskopie; LDH, Laktatdehydrogenase.

Die Ätiologie der Anämie bei Alkoholikern ist komplex und oft multifaktoriell; zu den Ursachen gehört eine Kombination aus schlechter Ernährung, chronischer Entzündung, Blutverlust, Leberdysfunktion und ineffektiver Erythropoese. Die effektive Erythropoese lässt sich an der Retikulozytenzahl ablesen. Es ist wichtig, sowohl die absolute Zahl der Retikulozyten als auch den Prozentsatz der Retikulozyten zu kennen, da eine ausgeprägte Anämie den relativen Prozentsatz irreführend erhöhen kann. Wenn die Lebensdauer der roten Blutkörperchen kurz ist, scheint der prozentuale Anteil der Retikulozyten höher zu sein, als es die absoluten Zahlen vermuten lassen (was die geringere Anzahl reifer roter Blutkörperchen widerspiegelt). Es liegt auf der Hand, dass eine sequenzielle Zählung der Retikulozyten nützlich ist, um Informationen über die Lebensdauer der Erythrozyten in diesen Situationen zu erhalten.

Die genaue Beurteilung der Anämie bei Alkoholikern erfordert die Ermittlung der relativen Beiträge der direkten toxischen Wirkungen von Alkohol und schlechter Ernährung auf die Synthese, Funktion und das Überleben der Erythrozyten sowie der Rolle der zugrunde liegenden chronischen Erkrankung wie Zirrhose oder chronische Sepsis. Ob eine chronische Lebererkrankung vorliegt oder nicht, kann sich aus der Anamnese und der Untersuchung des Patienten ergeben, doch ist eine Leberbiopsie zur Typisierung und Stadieneinteilung der Erkrankung oft nützlich. Die Bestätigung einer chronischen Lebererkrankung kann dann zur Suche nach anderen Faktoren führen, die zur Anämie beitragen könnten. Zu diesen Faktoren gehören Anomalien der roten Blutkörperchen (z. B. Targetzellen, Spornzellen), die mit Störungen des Fettstoffwechsels, Hämolyse, Anämie bei chronischen Erkrankungen, akutem oder chronischem Blutverlust durch Varizen und/oder Gastropathie (die oft durch koexistierende Koagulopathie und Hypersplenismus verschlimmert wird) verbunden sind.

Alkohol kann direkt toxisch für das Knochenmark sein, wie die Vakuolisierung von Prä-Erythroblasten oder sideroblastische Veränderungen zeigen. Alkoholismus und die schwächenden Faktoren, mit denen er oft einhergeht (z. B. chronische Sepsis und schlechte Ernährung), verursachen häufig eine ausgeprägte Anämie, auch wenn keine Lebererkrankung vorliegt (z. B. sideroblastische Anämie, megaloblastische Anämie und Anämie bei chronischen Entzündungen). So hat ein Teil der Alkoholiker sowohl eine verminderte Erythrozytenproduktion im Knochenmark als auch eine damit einhergehende verringerte Überlebenszeit der roten Blutkörperchen. Studien haben gezeigt, dass Knochenmarksbiopsien von Alkoholikern in der Mehrzahl der Fälle abnormal sind: Etwa zwei Drittel weisen megaloblastische und/oder sideroblastische Veränderungen auf, und weniger als ein Fünftel lässt auf einen zugrunde liegenden Eisenmangel schließen. Wenn nach einer ersten sorgfältigen Inspektion des peripheren Blutbildes Zweifel an der Diagnose bestehen, kann eine Knochenmarkspunktion nützliche Informationen liefern und, was ebenso wichtig ist, ernstere Ursachen der Anämie (z. B. Malignität oder andere Blutdyskrasien) ausschließen.

Einige Diagnosen sind sowohl bei übermäßigem Alkoholkonsum als auch bei Lebererkrankungen relevant, z. B. die ausgeprägte Hämolyse der Sporozellanämie, die bei Patienten mit Gelbsucht und schwerer alkoholischer Zirrhose beobachtet werden kann, und die leichte Hämolyse, die bei Steatose, Hypertriglyzeridämie und akuter Alkoholaufnahme auftritt (Zieve-Syndrom). Die hämolytischen Krisen, die durch Alkoholexzesse ausgelöst werden, sind nur wenig bekannt. Der hier beschriebene Fall wies Merkmale auf, die denen des Zieve-Syndroms ähnelten, obwohl seine Serumtriglyzeridwerte normal waren; diese Merkmale könnten daher die Wirkung des Alkohols direkt auf die Erythrozyten widerspiegeln.

Der vorliegende Fall verdeutlicht den oft komplexen Mechanismus der Anämie bei Alkoholikern. Die Ätiologie umfasste sowohl eine verringerte Überlebensrate der roten Blutkörperchen als auch eine verringerte Produktion roter Blutkörperchen (z. B. eine Funktionsstörung des Knochenmarks), so dass die Anämie das Ergebnis von mehr als einem Prozess war. Tabelle 3 fasst einige der verschiedenen pathologischen Prozesse zusammen, die zu einer Anämie bei Alkoholikern mit oder ohne begleitende chronische Lebererkrankung beitragen können.

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