Ursprüngliche Frage:

Ich bin daran interessiert, mehr über die Praxis der Wahlpflicht zu erfahren.

Insbesondere würde ich gerne wissen:

  • Welches sind die Hauptargumente dafür, das Wählen als eine obligatorische Bürgerpflicht zu betrachten (wobei Nichtwähler sanktioniert werden könnten) und nicht als ein Recht, für das sich ein Bürger frei entscheiden kann oder nicht; und
  • wie viele Länder in der Welt diese Wahlbestimmungen derzeit anwenden.

Zitat aus der ACE-Enzyklopädie zur Wahlpflicht:

„Mehrere Länder lösen das Problem der Wahlbeteiligung durch eine Wahlpflicht, darunter Australien, Belgien, Griechenland und viele Länder in Lateinamerika.

Viele andere Länder lehnen eine Wahlpflicht jedoch grundsätzlich ab. Obwohl sie wahrscheinlich mit jedem Wahlsystem gleichermaßen vereinbar ist, kann ihre Anwendung gleichzeitig mit anderen Themen im Zusammenhang mit der Wahlbeteiligung in Betracht gezogen werden.“

Links zu verwandten Ressourcen

  • Das Projekt zur Wahlbeteiligung bei International IDEA

Antwort des Moderators des Netzwerks:

In Bezug auf Ihre erste Frage betrachten die meisten demokratischen Regierungen die Teilnahme an nationalen Wahlen als ein Bürgerrecht. Einige betrachten die Teilnahme an Wahlen auch als staatsbürgerliche Verantwortung. In einigen Ländern, in denen die Stimmabgabe als Pflicht angesehen wird, wurde die Teilnahme an den Wahlen zur Pflicht gemacht und in den nationalen Verfassungen und Wahlgesetzen geregelt.

Einige Länder gehen sogar so weit, Nichtwähler mit Sanktionen zu belegen.

Die Wahlpflicht ist kein neues Konzept. Einige der ersten Länder, die Wahlpflichtgesetze einführten, waren Belgien im Jahr 1892, Argentinien im Jahr 1914 und Australien im Jahr 1924.

Es gibt auch Beispiele von Ländern wie Italien, Venezuela und den Niederlanden, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrer Geschichte Wahlpflicht praktizierten, sie aber inzwischen abgeschafft haben.

Die Befürworter: Die Befürworter der Wahlpflicht argumentieren, dass die Entscheidungen demokratisch gewählter Regierungen legitimer sind, wenn sich ein größerer Teil der Bevölkerung daran beteiligt. Sie argumentieren auch, dass das Wählen, ob freiwillig oder nicht, eine erzieherische Wirkung auf die Bürger hat. Politische Parteien können finanzielle Vorteile aus der Wahlpflicht ziehen, da sie keine Ressourcen aufwenden müssen, um die Wählerschaft davon zu überzeugen, dass sie generell zur Wahl gehen sollte.

Schließlich, wenn die Demokratie eine Regierung durch das Volk ist, was vermutlich alle Menschen einschließt, dann ist es die Verantwortung jedes Bürgers, seine Vertreter zu wählen.

Die Gegner: Das Hauptargument gegen die Wahlpflicht ist, dass sie nicht mit der mit der Demokratie verbundenen Freiheit vereinbar ist. Die Stimmabgabe ist keine eigentliche Pflicht, und die Durchsetzung des Gesetzes wäre ein Eingriff in die Freiheit der Bürger, die mit demokratischen Wahlen verbunden ist. Sie kann die politische Bildung der Wählerschaft beeinträchtigen, weil die zur Teilnahme gezwungenen Menschen gegen die wahrgenommene Quelle der Unterdrückung reagieren werden.

Ist eine Regierung wirklich legitimer, wenn die hohe Wahlbeteiligung gegen den Willen der Wähler erfolgt? Viele Länder mit begrenzter finanzieller Kapazität sind möglicherweise nicht in der Lage, die Ausgaben für die Aufrechterhaltung und Durchsetzung von Wahlpflichtgesetzen zu rechtfertigen. Es ist erwiesen, dass der Zwang zur Stimmabgabe zu einer höheren Zahl ungültiger und leerer Stimmen führt als in Ländern, in denen keine Wahlpflicht besteht.

Eine weitere Folge der Wahlpflicht ist die möglicherweise hohe Zahl von „Zufallsstimmen“. Wähler, die gegen ihren freien Willen wählen, können einen beliebigen Kandidaten ankreuzen, insbesondere den Spitzenkandidaten auf dem Wahlzettel. Dem Wähler ist es egal, wen er wählt, solange die Regierung zufrieden ist, dass er seine Bürgerpflicht erfüllt hat. Wie wirkt sich diese nicht messbare Kategorie von Zufallsstimmen auf die Legitimität der demokratisch gewählten Regierung aus?

Was Ihre zweite Frage betrifft, so ist eine Zahl, die die genaue Anzahl der Länder angibt, in denen Wahlpflicht besteht, ziemlich willkürlich. Das bloße Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von Wahlgesetzen in einer Verfassung ist viel zu simpel. Es ist konstruktiver, die Wahlpflicht als ein Spektrum zu analysieren, das von einem symbolischen, aber im Grunde wirkungslosen Gesetz bis hin zu einer Regierung reicht, die jeden nicht wählenden Bürger systematisch verfolgt und Sanktionen gegen ihn verhängt.

Dieses Spektrum impliziert, dass einige Länder zwar formal über Wahlpflichtgesetze verfügen, diese aber nicht durchsetzen und auch nicht durchsetzen wollen. Dafür gibt es eine Reihe möglicher Gründe:

  • Nicht alle Gesetze werden geschaffen, um durchgesetzt zu werden. Einige Gesetze sollen lediglich den Standpunkt der Regierung hinsichtlich der Verantwortung des Bürgers zum Ausdruck bringen. Gesetze zur Wahlpflicht, die keine Sanktionen vorsehen, können in diese Kategorie fallen. Auch wenn eine Regierung die Wahlpflicht nicht durchsetzt oder sogar formale Sanktionen für die Nichtteilnahme an der Wahl vorsieht, kann das Gesetz eine gewisse Wirkung auf die Bürger haben. In Österreich zum Beispiel ist die Stimmabgabe nur in zwei Regionen obligatorisch, wobei die Sanktionen nur schwach durchgesetzt werden. In diesen Regionen ist die Wahlbeteiligung jedoch höher als im Landesdurchschnitt.
  • Weitere mögliche Gründe für die Nichtdurchsetzung der Gesetze könnten die Komplexität und die für die Durchsetzung erforderlichen Ressourcen sein. Länder mit begrenzten Mitteln räumen der Durchsetzung von Wahlpflichtgesetzen möglicherweise keine hohe Priorität ein und hoffen dennoch, dass das Vorhandensein des Gesetzes die Bürger zur Teilnahme ermutigt.
  • Kann ein Land als wahlpflichtig angesehen werden, wenn die Wahlpflichtgesetze ignoriert werden und für die Wahlgewohnheiten der Wähler irrelevant sind? Praktiziert ein Land die Wahlpflicht, wenn es keine Strafen für die Nichtwahl gibt? Was ist, wenn es zwar Strafen für die Nichtabgabe der Stimme gibt, diese aber nie oder nur selten verhängt werden? Oder wenn die Strafe vernachlässigbar ist?

Viele Länder bieten absichtlich oder unabsichtlich Schlupflöcher, die es ermöglichen, dass Nichtwähler straffrei bleiben. In vielen Ländern muss man zum Beispiel nur wählen, wenn man als Wähler registriert ist, aber es besteht keine Pflicht, sich registrieren zu lassen. Die Menschen haben dann möglicherweise einen Anreiz, sich nicht registrieren zu lassen. In vielen Fällen, wie z.B. in Australien, kann eine akzeptable Entschuldigung für das Fernbleiben am Wahltag Sanktionen vermeiden.

Die verschiedenen Formen der Wahlpflicht in den verschiedenen Ländern lenken die Wahrnehmung der Wahlpflicht von einer entweder vorhandenen oder nicht vorhandenen Praxis der Länder auf eine Untersuchung des Ausmaßes und der Art und Weise, in der die Regierung ihre Bürger zur Teilnahme zwingt.

Nachfolgend finden Sie eine Tabelle mit allen Ländern, die eine Wahlpflicht gesetzlich verankert haben. In der ersten Spalte ist der Name des Landes aufgeführt, in der zweiten Spalte die Art der Sanktionen, die das jeweilige Land gegen Nichtwähler verhängt, und die dritte Spalte enthält die Information, inwieweit die Wahlpflichtgesetze in der Praxis durchgesetzt werden.

Die in der Spalte für die Art der Sanktionen aufgeführten Zahlen stehen für verschiedene Arten von Sanktionen. Diese sind wie folgt:

  1. Erläuterung. Der Nichtwähler muss einen legitimen Grund für seine Stimmenthaltung angeben, um weitere Sanktionen zu vermeiden, falls es welche gibt.
  2. Geldstrafe. Der Nichtwähler wird mit einem Bußgeld bestraft. Die Höhe variiert von Land zu Land, z.B. 3 Schweizer Franken in der Schweiz, zwischen 300 und 3.000 ATS in Österreich, 200 zypriotische Pfund in Zypern, 10-20 argentinische Pesos in Argentinien, 20 Soles in Peru usw.
  3. Mögliche Freiheitsstrafen. Dem Nichtwähler kann als Sanktion eine Haftstrafe drohen, allerdings sind uns keine dokumentierten Fälle bekannt. Dies kann auch in Ländern wie Australien vorkommen, wo eine Geldstrafe üblich ist. In Fällen, in denen der Nichtwähler die Geldstrafe trotz Mahnung oder nach mehrmaliger Weigerung nicht bezahlt, können die Gerichte eine Haftstrafe verhängen. Dabei handelt es sich in der Regel um eine Freiheitsstrafe wegen Nichtzahlung der Geldstrafe und nicht um eine Freiheitsstrafe wegen Nichtwählens.
  4. Verletzung der Bürgerrechte oder Entziehung der Wahlberechtigung. In Belgien ist es beispielsweise möglich, dass einem Nichtwähler, der innerhalb von 15 Jahren bei mindestens vier Wahlen nicht gewählt hat, das Wahlrecht entzogen wird. In Peru muss der Wähler nach der Wahl einige Monate lang eine gestempelte Wahlkarte mit sich führen, um nachzuweisen, dass er gewählt hat. Dieser Stempel ist erforderlich, um bestimmte Dienstleistungen und Waren von einigen öffentlichen Stellen zu erhalten. In Singapur wird der Wähler aus dem Wählerverzeichnis gestrichen, bis er/sie die Aufnahme in das Verzeichnis erneut beantragt und einen legitimen Grund für die Nichtwahl vorlegt. In Bolivien erhält der Wähler eine Karte, wenn er gewählt hat, damit er seine Teilnahme nachweisen kann. Der Wähler kann sein Gehalt von der Bank nicht erhalten, wenn er den Nachweis der Stimmabgabe nicht innerhalb von drei Monaten nach der Wahl erbringen kann.
  5. Andere. In Belgien kann es zum Beispiel schwierig sein, eine Stelle im öffentlichen Dienst zu bekommen, wenn man nicht gewählt hat, oder in Griechenland Schwierigkeiten, einen neuen Pass oder Führerschein zu bekommen. In Mexiko und Italien gibt es keine formellen Sanktionen, aber möglicherweise willkürliche oder soziale Sanktionen. In Italien wird dies als „harmlose Sanktion“ bezeichnet, bei der es z. B. schwierig sein kann, einen Betreuungsplatz für das eigene Kind zu bekommen, was aber in keiner Weise formalisiert ist.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.